falsches Bewusstsein
A: wa‛y muzayyaf. – E: false consciousness. – F: fausse conscience. – R: ložnoe soznanie. – S: falsa conciencia. – C: xujia yishi
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 4, 1999, Spalten 78-92
Die engelssche Bestimmung von Ideologie als fB bildete lange Zeit einen der populärsten Begriffe des Marxismus der Intellektuellen. Er signalisierte den Anspruch und das Versprechen unverstellter Welterkenntnis dank marxistischer Aufklärung über die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Nach emphatischer Rezeption in der Studentenbewegung erfuhr die Rede vom fB unterm Eindruck der Diskursanalyse, des materialistischen Kulturalismus und des Problematischwerdens edukationistischer Wahrheitsansprüche zunehmende Kritik.
Vor allem in der Nachfolge der frühen Georg Lukács und Karl Korsch sowie im Umkreis der von diesen inspirierten Frankfurter Schule sieht man »das Problem des fB nicht nur im Mittelpunkt der marxschen Doktrin«, sondern als »gleichsam deren Gerüst« (Gabel 1964). Sofern derartige Auffassungen sich auf Marx stützen sollen, ist zu berücksichtigen: 1. Die radikale Kritik aller Bewusstseinsphilosophie durch Marx macht auch das fB zu einem Begriff, der entsprechender Vermittlungen bedarf: »the real problems of humanity are not mistaken ideas but real social contradictions« (Larrain 1983). 2. Für Marx ist die Tatsache, »dass in den Köpfen der kapitalistischen Produktions- und Zirkulationsagenten sich Vorstellungen über die Produktionsgesetze bilden müssen, die von diesen Gesetzen ganz abweichen, und nur der bewusste Ausdruck der scheinbaren Bewegung sind« (K III), noch nicht gleichbedeutend mit Ideologie; zwischen dem spontanen Schein und dieser steht die Ausarbeitung durch Ideologen in komplexen Superstrukturen der Herrschaftsreproduktion. 3. Anstelle des totalisierenden Singulars »das fB« spricht Marx im Kapital fast immer konkreter von Anschauungen, Denk- oder Gedankenformen, Vorstellungen, verwendet also den offeneren Plural und vermeidet zumeist die Kategorie Bewusstsein. 4. Die Bestimmungen »falsch« oder »verkehrt« beziehen sich bei Marx in letzter Instanz zumeist auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse selbst, also nicht nur auf bewusstseinsmäßige Vorstellungen derselben; Theodor W. Adorno wird mit Ausdrücken wie »falsche Welt« oder »falsches Leben« daran anknüpfen (vgl. ND).
➫ Alltagsverstand, Aufklärung, Basis, bestimmte Negation, Bewußtsein, Camera obscura, Denkform, Diskursanalyse, Edukationismus, Entfremdung, Erziehung, Evidenz, falsche Bedürfnisse, Fetischcharakter der Ware, fiktives Kapital, Formalabstraktion/Realabstraktion, Frankfurter Schule, Gespenst, Herrschaft, Ideologe, Ideologiekritik, Ideologietheorie, Illusion, Imaginäres, Innenwelt/Außenwelt, Irrationalismus, Klassenbewusstsein, Korsch-Linie, Kritische Theorie, Lukács-Schule, Manipulation, Mystifikation, Oberfläche/Tiefe, objektive Gedankenformen, Phrase, Schein, Schulung, Sprache, Studentenbewegung, Superstruktur, unbewusst, Verblendungszusammenhang, Verdinglichung, verkehrte Welt, Verkehrung, Wahrheit, Warenästhetik, Wesen/Erscheinung, Widerspiegelung