kollektive Erinnerung
A: ḏikrā ǧam‛iyah. – E: collective memory. – F: mémoire collective. – R: kollektivnoe vospominanie. – S: memoria colectiva. – C: jiti jiyi 集体记忆
Redaktion (I.), Roger Simon (II.)
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1121-1128
I. KE lebt in Erzählungen, weitergereicht von Generation zu Generation, in Geschichtsbüchern, in der Kunst, modelliert von der Kulturindustrie und staatlich kanonisiert in Gedenkstätten und Museen, Ausstellungen und Denkmälern, Straßennamen usw. Sie fasst die je persönliche Erinnerung in einen Rahmen und bestimmt die gemeinsame Vorstellung von Zukunft. Der Begriff der kE wurde von Maurice Halbwachs ausgearbeitet, der damit die Erkenntnis auf den Begriff bringt, dass stets ein »gesellschaftliches Moment […] in die individuellen Erfahrungen eingeht« und dass auch »Kollektivgebilde« wie die Familie, die religiösen Gruppen oder die gesellschaftlichen Klassen ein »Gedächtnis« haben (1925/1985). Wenn »Halbwachs zu Beginn seiner Studien 1920 vor allem das Vergessen des Großen Krieges und seiner Vorgeschichte beunruhigte« (Niethammer 2000), so zeigt sich daran, dass kE sich an Aspekten der Geschichte im Großen festmacht, an groben Einschnitten und Veränderungen, an Katastrophen und Krieg. […]
Die kE ist ein Rahmen, in dem sich individuelles Erleben abspielt, ohne dieses vollständig zu bestimmen. Sie verfährt gewissermaßen ›makrologisch‹, situiert die Einzelnen in der Zeit und bestimmt so mit, an was und wie sich diese ›mikrologisch‹ erinnern. Eine Kriegsgeneration unterscheidet sich von einer Nachkriegsgeneration darin, wie ›Persönliches‹ erlebt wird. Von den Bevölkerungen kapitalistischer Länder unterscheiden sich die Mitglieder ehemaliger staatssozialistischer Gesellschaften in ihrem Erleben, ihren Gewichtungen und Erfahrungen, wie sich wiederum unter letzteren Erinnerungen der ehemaligen Eliten und der Oppositionellen unterscheiden. »Im Streit um 1989 rivalisieren diese unterschiedlichen und miteinander kombinierbaren Gedächtnisse um Anerkennung, und aus ihren jeweiligen Geltungsgrenzen gewinnen sie ein unerschöpfliches Reservoir an Empörung und milieuspezifischer Skandalisierung.« (Sabrow 2009)
[…] Das macht kE zum Gegenstand heftiger ideologischer Kämpfe. Ihre Steuerung wird zum strategischen Einsatz der jeweils Herrschenden. Mit ihren ideologischen Apparaten betreiben sie Geschichtspolitik. Sie arbeiten daran, wie die Verhältnisse und die in ihnen verankerten Konfliktursachen in den Geschichtsbüchern dargestellt werden bzw. in den Augen der Welt erscheinen sollen. Der Streit um ein Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin – dem Volk, von dem gesagt worden ist, dass es »in seiner Religion und Kultur mehr als jedes andere Volk der Geschichte von einem gemeinsamen Gedächtnis zusammengehalten« wird (Weinrich 1997) – zog die Frage des Erinnerns exemplarisch in den weiteren Kontext nationaler Schuld und der Legitimation der jetzigen Staatsverhältnisse. […]
Der Leiter der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Avner Shalev, sprach von einem »attack on the memory«, als im Dezember 2009 der den Eingang ins KZ Auschwitz überspannende Schriftzug »Arbeit macht frei« gestohlen worden war. Die Rede vom »Anschlag auf die Erinnerung« trägt der Tatsache Rechnung, dass kE nicht unabhängig von der Materialität der Dinge und Orte existiert. Wenn »räumliche Bilder eine so große Rolle in der kE spielen«, so deshalb, weil »der Ort den Abdruck der Gruppe und umgekehrt empfangen hat« (Halbwachs 1997), durch den sie Stabilität und Dauer gewinnt. Zwar bleibt von der Vergangenheit nur, »was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann« (Halbwachs 1925/1985), doch sind diese kein Gegebenes, das unabhängig von den sozialen Gruppen existieren würde, welche die ihnen jeweils eigenen Bezugsrahmen zur Geltung bringen. Wie »die Menschen gleichzeitig vielen verschiedenen Gruppen angehören, so auch [passt] die Erinnerung an ein und dasselbe Ereignis in viele Bezugsrahmen hinein […], die verschiedenen Kollektivgedächtnissen angehören« (…). Was und wie etwas erinnert wird, welche »Bezugsrahmen« gesellschaftsweit Anerkennung finden, ist stets eine Frage der Hegemonie.
II. Der Anschlag aufs World Trade Center am 11. September 2001 wurde mit Hilfe multimedialer, fast simultaner Verbreitung zu einem Ereignis der Weltgeschichte. Innerhalb weniger Stunden hat eine riesige Anzahl von Menschen, deren geschichtlicher Hintergrund und soziale Identität nicht unterschiedlicher sein könnten, dieses Ereignis verfolgen können. Wenn Halbwachs davon ausgeht, dass die »Gruppe von Menschen, mit denen wir im Augenblick Beziehungen unterhalten«, entscheidend ist für die Aktualisierung gemeinsamer Erinnerungen, dass also eine »gemeinsame Haltung« die Voraussetzung ist (1925/1985), damit die Aufmerksamkeit auf bestimmte Erinnerungen gelenkt werden kann, dann scheint dies mit dem vorliegenden Fall nicht vereinbar, bei dem eine Tradition von Bildern und Erzählungen sich gebildet hat unter Menschen, die ansonsten einander fremd sind und unterschiedlichen sozialen Milieus angehören. Andererseits kann man mit Halbwachs sagen, dass sich aufgrund eines Ereignisses, das eben die ›ganze‹ Welt – medial vermittelt – zum Zeugen gemacht hat, auch die weltweite Gruppe gebildet hat, die den Träger einer kE konstituiert.
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