innerer Kolonialismus
A: al-ʼistiʽmār ad-dāḫilī. – E: internal colonialism. – F: colonialisme intérieur. – R: vnutrennyi kolonializm. – S: colonialismo interno. – C: nèibù de zhímínzhǔyì 内部的殖民主义
Pablo González Casanova (I.), Peter Jehle (II.)
HKWM 6/II, 2004, Spalten 1141-1158
I. Dieser für die Kämpfe der Völker wichtige Begriff bezieht sich auf alle Ebenen des gesellschaftlichen Ganzen. Seine Geschichte ist mit der des Nationalstaats und des Kapitalismus ebenso verbunden wie mit historischen Alternativen, mit Widerstand und Autonomie innerhalb des Nationalstaats, mit den Kräften der Demokratie, der Befreiung und des Sozialismus. Der iK war für sehr unterschiedliche ideologische Strömungen tabu: für die Ideologen des Imperialismus, weil sie nationale wie internationale Ungleichheit und Ausbeutung ausblendeten; für diejenigen der nationalen Befreiungsbewegungen oder des Sozialismus, die – einmal an der Macht – das dialektische Denken vergaßen und nicht erkannten, dass der von ihnen geführte Nationalstaat die kolonialen Strukturen im Innern aufrechterhält oder erneuert. Zwar stellten letztere mit Recht fest, dass der Imperialismus die Widersprüche zwischen der Nationalregierung und den neu kolonisierten Nationalitäten ausnutzt, um die aus der Revolution oder den Befreiungskämpfen hervorgegangenen Staaten zu schwächen, doch dienten diese Argumente immer wieder als Vorwand, um sich gegen die Kämpfe der ›nationalen Minderheiten‹ oder der ›Ureinwohner‹ zu wenden oder die Kräfteverhältnisse unangetastet zu lassen, die diese in Unfreiheit halten.
IK bezieht sich ursprünglich auf Formen von Eroberung, bei der die eingeborenen Bevölkerungen nicht vernichtet werden, sondern Teil des Kolonisatorstaates, später des formal unabhängigen, zum Sozialismus übergehenden oder des rekolonisierten, zum Kapitalismus zurückkehrenden Staates werden. Die betreffenden Völker, Minderheiten oder Nationen leben unter Bedingungen, die denen des Neokolonialismus gleichen: 1. Sie leben auf einem Territorium ohne eigene Regierung; 2. sie befinden sich in Ungleichheit gegenüber den Eliten der herrschenden Ethnien und den diese bildenden Klassen; 3. ihre Verwaltung und politisch-rechtliche Verantwortung liegt in den Händen der herrschenden Ethnien, der Bourgeoisien und Oligarchien der Zentralregierung oder von deren Verbündeten; 4. sie haben keinerlei Anteil an den höchsten politischen und militärischen Ämtern, außer sie gelten als ›assimiliert‹; 5. die Rechte der Bewohner wie ihre gesamte Lage werden durch die Zentralregierung bestimmt; 6. sie gehören i.d.R. zu einer anderen ›Rasse‹ als die Herrschenden und werden als ›minderwertig‹ betrachtet, allenfalls als ein Symbol der ›Befreiung‹, das Teil der staatlichen Demagogie ist; 7. sie gehören mehrheitlich einer anderen Kultur an und sprechen eine andere als die ›nationale‹ Sprache.
»Wenn die Freihändler nicht begreifen können, wie ein Land sich auf Kosten des anderen bereichern kann, so brauchen wir uns darüber nicht zu wundern, da dieselben Herren noch weniger begreifen wollen, wie innerhalb eines Landes eine Klasse sich auf Kosten einer anderen bereichern kann«, bemerkt Marx in seiner Rede über die Frage des Freihandels (…). Zu diesen Formen von Bereicherung kommen die des iK hinzu. – Im klassischen marxistischen Denken ging es allerdings zunächst v.a. darum, dass die Arbeiter durch die Bourgeoisie beherrscht und ausgebeutet werden, weniger um die Beherrschung und Ausbeutung einiger Länder durch andere. Mit der Entwicklung der Sozialdemokratie und ihrer Kooptierung durch die großen Kolonialmächte verblasste nicht nur die Klassenanalyse und geriet zuweilen sogar in Vergessenheit, sondern es stumpfte der Sinn für die Ungerechtigkeiten des Kolonialismus selbst ab. Kritische Studien wie diejenige John A. Hobsons (1902) über den Imperialismus waren die Ausnahme. Erst mit der russischen Revolution kam der doppelte Kampf gegen Kapitalismus und Kolonialismus auf die Tagesordnung. Auf Seiten der kolonialen oder abhängigen Völker traten lange Zeit Widerstands- oder Aufstandsbewegungen hervor, die partikularistische Züge trugen. Anfang des 20. Jh. gewannen einige Unabhängigkeitsrevolutionen exemplarischen Status, so die chinesische oder die mexikanische.
Wahrgenommen hat man die Problematik des iK aber erst im Gefolge von Befreiungskämpfen und sozialistischem Aufbauprojekt bzw. mit Aufkommen der Neuen Linken in den 1960er Jahren und ihrer Kritik an den Widersprüchen, in die die kommunistischen und nationalistischen Staaten der Dritten Welt geraten waren. Weltweite Bedeutung haben die dagegen gerichteten Widerstands- und Autonomiebewegungen sogar erst gegen Ende des 20. Jh. erlangt. Viele von ihnen überwanden nicht nur die korporative Logik der Stammesfehde und schlossen sich mit anderen Ethnien zusammen, sondern entwickelten gesellschaftliche Projekte, in denen ethnische Autonomie mit nationaler Befreiung, Sozialismus und Demokratie artikuliert wird. Die Konstruktion eines multiethnischen Staates verbindet sich so mit derjenigen einer »Welt, die aus vielen Welten besteht« (un mundo hecho de muchos mundos), wie es in dem weltweit bekannt gewordenen Manifest der Zapatistas gegen den Neoliberalismus vom August 1996 heißt (vgl. González Casanova 1994; Haug 1999; Harvey 2000; Baschet 2002; Das Argument 2003).
II. Angrenzende Begriffe, die mit dem des iK interagieren, sind Jürgen Habermas’ »Kolonialisierung der Lebenswelt«, oder derjenige der »inneren Kolonisierung«, wie er in den Kultur- und Literaturwissenschaften verwendet wird. Habermas schlägt vor, »Gesellschaften gleichzeitig als System und Lebenswelt zu konzipieren«, die unterschiedlich integriert werden: die über Geld und Macht gesteuerten »Subsysteme« von »Wirtschaft und Staat« stehen einer »Lebenswelt« gegenüber, die »kommunikativ strukturiert«, an »sprachliche Konsensbildung« gekoppelt ist (1981). Zur »Kolonialisierung der Lebenswelt« kommt es, wenn die »Imperative« des »Systems« »von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft« – eindringen und eine »Assimilation« erzwingen (…), wie sie etwa in der »Verrechtlichung« von bisher zwischen den Beteiligten selbst ausgehandelten Fragen, ohne Einmischung einer übergeordneten Macht, zum Ausdruck kommt. Der Begriff der »Kolonialisierung« orientiert auf das Getrennthalten der beiden Bereiche und empfiehlt sich als ›neutrales‹ »Grenzschutzkonzept« einer politisch fortschrittlichen so gut wie konservativen Nutzung: Wo Wirtschaft und Staat unvermeidlich nach den Logiken von Geld und Macht funktionieren, soll wenigstens die Lebenswelt als konsensintegriertes Refugium individueller Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung erhalten bleiben.
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